Als die Kriminalhauptkommissarin Anfang der Woche die MK „Howe“ übernahm, schwebte das Hauptopfer noch in Lebensgefahr. Ermittelt wird wegen versuchter Tötung. Ausgangspunkt war ein Drogengeschäft in Tecklenburg im Kreis Steinfurt, der wie die Kreise Warendorf, Coesfeld und Borken zur Zuständigkeit des KK11 gehört.
Zwei junge Männer aus der kleinen Stadt am Teutoburger Wald wollten Marihuana von zwei kaum älteren Dealern aus Lengerich erwerben. Sie trafen sich auf dem Hof der Haupt- und Gesamtschule. Offenbar hatten die Käufer die Absicht, die Verkäufer „abzuziehen“ und mit dem Stoff zu verschwinden. Die beiden Rauschgifthändler hätten das verhindern wollen, schildert Böhlendorf das Geschehen. Einer der Dealer habe dann ein Messer gezogen und den 20-Jährigen schwer verletzt. Er erhielt Stiche in die Milz, die Lunge und den Darm. Der 17-jährige Kumpel kam mit leichten Blessuren davon. „Die Hemmschwelle, ein Messer als Waffe zu benutzen, ist leider sehr gesunken“, stellt die Polizistin fest.
Zunächst hätten die beiden Opfer über die Täter geschwiegen, weil sie sich wegen des BTM-Deals nicht selbst belasten wollten, erzählt sie. Jemand aus dem engen Umfeld hat dann jedoch die Polizei angerufen und Hinweise gegeben. „So konnten wir die Gesuchten heute in den frühen Morgenstunden festnehmen. Den einen zu Hause, den anderen auf dem Weg zur Arbeit.“ Einer habe sogar schon ausgesagt und seine Beteiligung eingeräumt, berichtet sie.
„Bei einer Festnahme musst du genau überlegen, wo du zugreifen willst“, erklärt Böhlendorf. „Unsere Eigensicherung hat höchste Priorität.“ Das taktische Konzept muss wohlüberlegt sein. Niemand soll Schaden nehmen. „Mitunter locken wir einen Beschuldigten auch aus einer Wohnung. Oder wir besorgen uns beim Katasteramt oder beim Bauamt den Zuschnitt der Räumlichkeiten, um gezielt operieren zu können.“ Bei als besonders gefährlich Eingestuften wird auch mal das Mobile Einsatzkommando (MEK) oder das Spezialeinsatzkommando (SEK) zur Unterstützung angefordert. „Heute konnten wir mit unseren eigenen Kräften arbeiten. Das verlief alles reibungslos.“
Die Kriminalbeamtin hat im Münsteraner Polizeipräsidium schon einige Mordkommissionen geleitet. „Ich freue mich jeden Morgen auf die Arbeit“, bekennt sie. „Doch die Arbeit in einem KK11 ist speziell und nicht jedermanns Sache.“
Klar nehme man die Arbeit gedanklich mit nach Hause. Das schilderten die Fernsehkrimis schon ganz zutreffend. „Die Fälle lassen einen nicht los“, stellt die gebürtige Hamburgerin nüchtern fest. „Mich motiviert es aber, beim Aufstehen nicht zu wissen, was der Tag bringt.“ Auch die naturwissenschaftliche Seite des Jobs in Zusammenarbeit mit den Gerichtsmedizinern und der Kriminaltechnischen Untersuchung (KTU) sei faszinierend, so die 48-Jährige.
Früher galt die Aufklärung von Tötungsdelikten bei der Polizei als Königsdisziplin. Es gab viel mehr Bewerber als Stellen. Heute haben die Kommissariate für Kapitalverbrechen Nachwuchssorgen. Man ermittelt nicht nur bei Tötungsdelikten, sondern auch bei anderen schweren Straftaten. Die Intensität der Arbeit, der Zeitdruck und die vielen Bereitschaftsdienste belasten das KK11 in Münster wie andernorts.
Bei einem Tötungsdelikt nachts einen Anruf zu erhalten und dann zum Tatort oder ins Präsidium zu fahren, um die notwendigen Schritte einzuleiten, sei normal, teilt Julika Böhlendorf mit. „Da nimmst du dir auch mal schnell einen Kaffee im Pappbecher mit und bekleckerst dein T-Shirt, bevor du angekommen bist. Manchmal ist das Leben eben wie im Film.“
Liegen Anzeichen für einen unnatürlichen Tod vor, wird als Erstes die Staatsanwaltschaft oder das Amtsgericht informiert. „Die Ursache und die Umstände des Todes müssen so schnell wie möglich am Tatort und in der Gerichtsmedizin geklärt werden.“ In Münster wird eine zu obduzierende Leiche zum Institut des Universitätsklinikums gefahren.
Neben zwei Medizinern und einem Gehilfen sind auch ein Staatsanwalt, ein Mordermittler und gegebenenfalls ein Mitarbeiter von der KTU im Obduktionssaal dabei. Niemand aber schwadroniert dort wie Film-Professor Börne im „Tatort“-Krimi. Der von Jan Josef Liefers gespielte Leiter der Rechtsmedizin mischt sich stets auch in die Ermittlungen ein.
„Das ist natürlich frei erfunden“, urteilt die Polizistin. In der Wirklichkeit seien alle stark auf ihre eigentliche Aufgabe konzentriert, weiß sie aus eigener Erfahrung. „Die innere Leichenschau ist ein ganz wichtiger Teil unserer Arbeit“, hebt sie hervor. „Die Untersuchung gibt oft entscheidende Hinweise auf die Tat und den Täter.“
Dennoch könne der Ton im Obduktionssaal manchmal auch flapsig sein. „Das Ganze kann Stunden dauern. Währenddessen diskutieren wir die Befunde“, sagt die Mutter von zwei erwachsenen Kindern. „Später erhalten wir einen ausführlichen schriftlichen Bericht der Gerichtsmedizin. Der Vorbefund kommt telefonisch.“
Die Ermittlungsarbeit hat viele Facetten. Als Erstes zeigt uns Julika Böhlendorf den Raum, in dem die Vernehmungen aufgezeichnet und die Aussagen des Beschuldigten mit Kameras aus verschiedenen Perspektiven festgehalten werden. „Das Gericht gewinnt dadurch einen guten Eindruck, ob die Einlassungen glaubwürdig erscheinen.“ Man könne auf diese Weise einschätzen, ob der Vernommene nervös gewesen ist, benommen oder gefasst. „Inzwischen wird leider meist sofort ein Anwalt hinzugezogen, der dazu rät, sich nicht zur Sache zu äußern.“
Im Trocknungsraum, einer ehemaligen Zelle, hängt die blutverschmierte Kleidung des schwer verletzten Opfers aus Tecklenburg. Stefan Eierhoff von der KTU führt uns dann in einen Nachbarraum. Dort wirft der Kriminalhauptkommissar einer Puppe zur Demonstration eine Jacke über. „Die Defekte, die ein Messer oder ein Schuss an der Kleidung hinterlassen, sind sehr aufschlussreich“, konstatiert er. „Die Beschädigung der Textilien ermöglicht Rückschlüsse auf die Ausführung der Tat. Das halten wir auch fotografisch fest.“
Die Spurensicherung liefert oft die entscheidenden Teilchen im Puzzle. Dazu zählt die DNA-Analyse, aber auch Mikrofaserspuren, die ein Angreifer beispielsweise mit seinem Pullover auf dem Opfer hinterlässt.
In einer Kammer werden die Schuheindruckspuren von Schuhsohlen an Tatorten gesammelt. „Ein kleiner Riss im Profil erlaubt, jemanden mit Nike-Sneakers zu identifizieren“, sagt Eierhoff. „Auch wenn es von solch einem Modell Millionen Exemplare gibt.“ Zum Schluss zeigt er auf ein Gerät, das Fingerabdrücke in einem „Feuchtigkeitsmilieu“ entwickelt. „Früher haben wir Rußpulver benutzt. Da kam es leicht zu Verschmutzungen. Das heutige Verfahren garantiert dagegen eine berührungsfreie Sicherstellung.“
Zurück im KK11 empfängt uns der Leiter Joachim Poll. Erst im Mai hat der Erste Kriminalhauptkommissar das Kommissariat übernommen, in dem er seit gut 25 Jahren arbeitet. Mit 14 Kolleginnen und Kollegen wickelt er die Fälle ab. „Das gelingt nur, weil sich alle enorm reinhängen“, sagt der erfahrene Ermittler. Bei den Mordkommissionen komme es darauf an, die richtige Marschrichtung einzuschlagen und gute Teams für die Erledigung der verschiedenen Aufgaben zu bilden. Zeugen müssten gehört, Personalien ermittelt, Verdächtige überwacht oder Daten im Netz gesichert werden. „Wenn wir nicht auf Mitarbeiter anderer Dienststellen zurückgreifen könnten, würden wir es nicht schaffen“, sagt der 57 Jahre alte Münsteraner.
Denkwürdige Fälle gab es in jüngster Vergangenheit genug. Poll selbst hat 2019 als Leiter der MK „Brunnen“ einen besonders spektakulären Mord aufgeklärt. Im Juli des Jahres war im münsterländischen Neuenkirchen die Leiche einer 79-jährigen Frau im Brunnen einer Gärtnerei gefunden worden, die ihr gehörte. Bei der Obduktion wurde festgestellt, dass die Frau ertrunken war. Ein Hämatom am Kopf konnte durch einen Sturz, aber auch durch Fremdeinwirkung entstanden sein. Der festgenommene Sohn musste zunächst mangels dringenden Tatverdachts wieder freigelassen werden.
„Im Laufe der nächsten Wochen verdichteten sich aber die Indizien“, sagt Poll. Die Ermittler fanden heraus, dass der 54-Jährige mit seiner Mutter zerstritten war. Sie wollte am Folgetag die Großgärtnerei verkaufen. Der Sohn fürchtete die Enterbung. Im Oktober 2019 wurde er verhaftet. Vor Gericht konnte schlüssig dargelegt werden, dass er die alte Frau in ihrem Haus bewusstlos geschlagen hatte und sie an einem Gurt im Brunnen versenkte. Dafür wurde der Gärtnermeister, der bis zuletzt die Tat leugnete, im Februar 2021 von der Schwurgerichtskammer am Landgericht Münster zu lebenslanger Haft verurteilt. „Es ist ein hartes Stück Arbeit, damit die Anklage in einem Indizienprozess hieb- und stichfest ist“, macht Joachim Poll klar. „Die Zusammenarbeit unseres KK11 mit der Staatsanwaltschaft funktioniert hervorragend.“
Anfang August 2019 bereitete das Verschwinden einer 68-jährigen Frau aus Münster Kopfzerbrechen. Die Leiche wurde ein paar Wochen später mit Würgemalen am Hals in Schleswig-Holstein an einer Böschung gefunden. „Wir hatten schnell den bei Pinneberg lebenden Neffen in Verdacht, der gegenüber unseren Ermittlern einen Besuch der Tante im Tatzeitraum einräumte.“ Die Mordkommission stieß auf einen Darlehensvertrag über 25.000 Euro. Den hatte der Wirtschaftsinformatiker mit seiner Verwandten abgeschlossen. Die wollte offenbar nun das Geld zurück.
„Wir fanden auch eine Baumarktrechnung für eine Abdeckplane, Kabelbinder und ein Schiffsseil, die der falsche Doktor, ein notorischer Lügner, drei Tage vor der Tat gekauft hatte“, erinnert sich Poll. Telefondaten und Chatprotokolle belasteten zusätzlich den Angeklagten, der seine Unschuld vor dem Landgericht Münster beteuerte. Im Juli 2020 erhielt der Mann, der ein Doppelleben geführt hatte, ebenfalls eine lebenslange Freiheitsstrafe.
Rätselhaft ist noch der Mord an einem 34-jährigen aramäischen Christen in Ahlen, der am 10. Dezember 2020 um 22.03 Uhr aus nächster Nähe in der Einfahrt seines Hauses mit einem Schuss in den Kopf und einem ins Bein niedergestreckt und getötet wurde. Zur Ergreifung des Täters wurden 55.000 Euro ausgesetzt – 50.000 von der Familie und 5.000 von der Staatsanwaltschaft. „Der Koch war von der Arbeit gekommen und hatte noch bei einem Imbiss angehalten. Dann war er nach Hause gefahren“, schildert Julika Böhlendorf die unmittelbare Vorgeschichte des Mordes, den sie ebenfalls als MK-Leiterin bearbeitet. „Wir haben zwei Projektile. Sonst tappen wir noch ziemlich im Dunkeln.“ Sie will demnächst den „Cold Case“ im ZDF bei „Aktenzeichen XY … ungelöst“ präsentieren.
Seit 2017 ist Julika Böhlendorf im KK11. Angefangen hat die leidenschaftliche Sportlerin und Motorradfahrerin als Streifenpolizistin. Lange war sie dann Personenschützerin und wechselte danach in die Ermittlungskommission Wohnungseinbrüche. „Jetzt will ich hier bleiben.“
Wir machen uns auf den Weg in die Gerichtsmedizin. Es sei wichtig, auch diesen Ort einmal gesehen zu haben, sagt sie. Die Fächer mit den Leichen, die funktionale Kühle des gekachelten Obduktionssaals und auch der spezielle Geruch schrecken sie nicht ab. Der Umgang mit dem Tod sei Teil ihres Berufs. „Etwa einmal in der Woche stehe ich hier.“
Es sei wichtig, eine professionelle Distanz zu den Ermittlungsvorgängen zu wahren. Meistens gelinge das.
„Manchmal ist es schwer“, sagt sie nachdenklich. Vor allem, wenn es sehr junge Menschen getroffen hat. „Einmal ist ein Mädchen umgebracht worden, das so alt war wie mein Sohn. Es hat auch ganz in der Nähe gewohnt. So etwas beschäftigt mich dann doch mehr als normal.“