Blick durchs Guckloch einer Gefängniszelle
Aus dem Dunklen ins Helle holen
Nordrhein-westfälische Polizeibeamtinnen und -beamte besuchen die NS-Gedenkstätte Steinwache in Dortmund, wo vor 80 Jahren die Gestapo Menschen inhaftierte und folterte.
Streife-Redaktion

Zelle 4, ein Verließ, etwa zehn Quadratmeter groß. Hinten links eine Holzpritsche. In der Wand darüber hängt ein schwerer Eisenring. Daran wurden Gefangene festgebunden. In einer Vitrine liegt eine „neunschwänzige Katze“. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) prügelte mit der Drahtpeitsche Geständnisse aus Häftlingen heraus. Hier, im Aufnahme- und Vernehmungszimmer der Steinwache, bekannt als „Hölle Westdeutschlands“. Polizisten wurden zu Vollstreckern des Unrechts, marterten Sozialdemokraten, die im Dortmunder Norden die Arbeiterbewegung anführten, quälten und töteten auch jüdische Bürgerinnen und Bürger, Sinti und Roma, Ausländer, Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter. Die Gesetze der Demokratie waren außer Kraft gesetzt. Willkür regierte über Menschenrechte.

Besonders im Zusammenhang mit rechtsextremen Inhalten in Chats von Dienstgruppen des PP Essen-Mülheim rückte die Frage nach der Beschäftigung mit der organisationalen Vergangenheit in den Fokus. Heute ist die „Förderung demokratischer Resilienz“ ein Schwerpunkt in Studium und Weiterbildung.

Auf einem Tisch im Dortmunder Kellerverließ liegt ein vergilbtes Haftbuch aus dem Juni 1933, als die letzte demokratische Partei zerschlagen wurde und sich das Deutsche Reich endgültig in ein totalitäres System verwandelte. Die aufgeschlagene Seite dokumentiert Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung, auch der Name des damaligen Dortmunder Oberbürgermeisters Fritz Henßler ist notiert. Festnahme: 16.25 Uhr. Grund der Verhaftung: keine Angaben. Wertgegenstände: keine. Ohne richterliche Anweisung wurde der Sozialdemokrat zehn Wochen in Schutzhaft gehalten. Die Anklage plädierte auf Hochverrat, hatte jedoch keine Beweise. Deswegen wurde Henßler später bis zum Kriegsende 1945 im brandenburgischen Konzentrationslager Sachsenhausen interniert.

Wie konnte es dazu kommen, dass der gesamte Polizeiapparat zum Befehlsempfänger eines Diktators wurde und nur einige wenige Beamtinnen und Beamte versuchten, ihr Gewissen zu bewahren? „Unglaublich, dass die Menschen keine Rechte mehr hatten und es keine Menschlichkeit mehr gab“, sagt Polizeioberkommissarin Josephine Krautkrämer, die mit ihren Kolleginnen und Kollegen nachdenklich in einer Zelle im 3. Stock steht. Unter dem Guckloch der schweren Eisentür zeichnen sich deutliche Abdrücke ab. Verzweifelte Häftlinge schlugen gewaltsam gegen das Metall, weil Polizisten sie in den Bombennächten 1945 hier eingepfercht hatten.

Dortmund versank in Schutt und Asche. Wie ein Wunder blieb die Steinwache stehen: fünf Stockwerke, Zellen für 126 Häftlinge. Heute ist rechts neben dem Eingang ein Schulungsraum. Dort werden die Polizistinnen und Polizisten später über Gruppendynamik diskutieren und Themen wie Propaganda und Täterlogik streifen. Historiker Jan Pohl wird fragen: „Was passiert, wenn ein Häftling nicht mehr als Mensch, sondern als Parasit, als Schädling gesehen wird?“

Anregungen geben, nachdenklich machen. Innenminister Herbert Reul sprach von einer „Vitaminkur für die demokratischen Abwehrkräfte“, als er im September 2021 den 80-seitigen Abschlussbericht „Rechtsextremistische Tendenzen in der Polizei Nordrhein-Westfalen“ vorstellte. Zuvor waren fremdenfeindliche und menschenverachtende Inhalte öffentlich geworden, die in Chatgruppen der Polizei kursierten. Der Bericht gab 18 Handlungsempfehlungen, um die demokratische Werteorientierung der mehr als 50.000 Polizeibeschäftigten in NRW zu fördern.

„Bei dem Gedenkstätten-Projekt geht es darum, sich die Fehler der Vergangenheit zu vergegenwärtigen, um Ableitungen für die Gegenwart vorzunehmen“.
 

Hendrik Mathias, Sachbearbeiter im Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW (LAFP NRW)

Bisher haben Dienstgruppen auch schon Gedenkstätten besucht – aber meist nur die in der unmittelbaren Umgebung. „Jetzt können Polizistinnen und Polizisten aus Münster zum Beispiel auch Workshops in der ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang in der Eifel buchen, wo zwischen 1936 und 1939 die Elite für den NSDAP-Führungskader ausgebildet wurde“, erklärt Mathias.

Die Kolleginnen und Kollegen von der Polizei Huckarde stehen gerade vor deckenhohen Fotos mit Stacheldrahtzäunen, in denen tote Menschen hängen. „Arbeit macht frei“ steht über dem Tor eines Konzentrationslagers. Wieder einmal betretenes Schweigen. Die Führung ist vorbei, jetzt steht Gruppenarbeit auf dem Programm.

„Habt ihr gewusst, dass Dortmunder Polizisten im Warschauer Ghetto Menschen erschossen haben“, fragt Polizeihauptkommissar Moritz Altenheiner. Seine Kolleginnen und Kollegen schütteln die Köpfe. In einem Aufsatz erfahren sie mehr über das Mord-Bataillon, das Juden ihre Lebensmittelrationen, Geld und Schmuck wegnahm. Männer, Frauen, Kinder auspeitschte oder ohne Warnung erschoss – einfach so. Einen Befehl gab es nicht. „Schlimm, ich bekomme eine Gänsehaut“, sagt Polizeihauptkommissar Thomas Kaiser.

Zurück in den Schulungsraum. Dort werden die Ergebnisse der Gruppenarbeit an einem Flipchart zusammengetragen. Noch mehr Fragen kommen auf: Warum haben so viele mitgemacht? Warum hat kaum jemand die Befehle hinterfragt? Alle sind sich einig: „Solche Greueltaten wären in Deutschland nicht mehr möglich.“

Zum Schluss wirft die Gruppe einen letzten Blick auf die eiserne Treppe der Steinwache, die vom Keller bis ins Dach führt. Im Erdgeschoss hängt noch das Maschendrahtnetz, das die Gestapo 1934 eingebaut hat. Der Grund: Sie wollte verhindern, dass sich Häftlinge nach qualvollen Folterverhören lieber in den Tod stürzten statt weiterzuleben.

 

Die zehn Gedenkstätten

 

Mahn- und Gedenkstätte | Düsseldorf

Wurde im historischen Stadthaus in der Altstadt eröffnet. Das Gebäude war bis 1934 Sitz des Polizeipräsidiums.

NS-Dokumentationszentrum | Köln

Von 1935 bis 1945 war das EL-DE-Haus am Appellhofplatz Sitz der Kölner Gestapo.

Burg Vogelsang | Schleiden

Ehemalige nationalsozialistische Ordensburg Vogelsang.

Alte Synagoge | Wuppertal

Die Gedenkstätte befindet sich an der Stelle, wo bis zum November 1938 die Elberfelder Synagoge stand.

Villa ten Hompel | Münster

Die Villa war im Nationalsozialismus Sitz der Ordnungspolizei.

Wewelsburg | Büren

Die Gedenkstätte Wewelsburg arbeitet die Tätigkeiten der Schutzstaffel (SS) auf.

Steinwache | Dortmund

Die Steinwache in Dortmund war früher ein Polizeigefängnis.

Alte Synagoge | Essen

Das Kulturinstitut der Stadt befindet sich im früheren Synagogenbau der jüdischen Gemeinde.

Jüdisches Museum Westfalen | Dorsten

Die 2018 eröffnete Dauerausstellung „L’Chaim – Auf das Leben“ im jüdischen Museum Westfalen in Dorsten bietet Einblicke in die jüdische Kultur und Religion.

Villa Merländer | Krefeld

Die Villa Merländer ist seit 1991 offizielles NS-Dokumentationszentrum der Stadt Krefeld.

 

Fünf Stockwerke, Zellen für 126 Häftlinge
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Fünf Stockwerke, Zellen für 126 Häftlinge

IM NRW / Tim Wegner

Das Polizeigefängnis Steinwache wurde  „Hölle Westdeutschlands“ genannt.

Blick durchs Guckloch einer Gefängniszelle
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Blick durchs Guckloch einer Gefängniszelle

IM NRW / Tim Wegner

Bezirksbeamtinnen und -beamte der Dortmunder Polizeiwache Huckarde im ehemaligen Gestapo-Gefängnis Steinwache

In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110