Der junge Mann hinter dem Steuer eines schwarzen Audi gibt schon am Europaplatz in Aachen richtig Gas und biegt mit stark überhöhter Geschwindigkeit auf die Autobahn 544 ein. Im Höchsttempo wechselt der Raser die Spuren. Nach einem waghalsigen Überholmanöver gerät er mit seinem Wagen auf den Seitenstreifen und verliert vor der Anschlussstelle Rothe Erde die Kontrolle über das Fahrzeug. Er driftet auf das Grün des Mittelstreifens, bekommt wieder Asphalt unter die Reifen und schleudert zurück auf die Fahrbahn. Er kann sich gerade noch vor einem Aufprall gegen die Leitplanke retten. Doch ein hinter ihm fahrender Volvo muss so stark abbremsen, dass der folgende Opel in ihn hineinrauscht. Beide Fahrzeuge sind Schrott, die Fahrer eingeklemmt hinter ihren Lenkrädern. Sie könnten schwer verletzt sein. Den Unfallverursacher stört das nicht, er macht sich in seinem unbeschädigten Audi aus dem Staub. Fahrerflucht!
So sieht im Plot die Ausgangssituation für die praktische Fortbildung von rund 40 Multiplikatoren aus, die seit 2023 Mitglieder im Qualitätszirkel Verkehrsunfallaufnahme im Polizeipräsidium Köln sind. Mit diesem Stab – bislang in dieser Form einmalig in NRW – will man die Arbeit in dem genannten Aufgabenbereich optimieren. „Wir haben sehr gern die Gelegenheit wahrgenommen, auf der Autobahn 544 zu trainieren“, sagt Einsatzleiter Gerhard Buse, der das Ganze organisiert hat. „Eine solche Chance bietet sich nur selten.“ Durch den Abriss einer Brücke ist der Autobahnabschnitt für Monate gesperrt.
Als Leiter der Autobahnpolizeiwache Broichweiden bringt Erster Polizeihauptkommissar Buse reichlich Erfahrung mit. Er hat schon viele Verkehrsunfälle begleitet. Für die „Multis“, die ihr Wissen in die Dienststellen tragen, wird es ein großer Tag mit vielfältigen Erlebnissen. Sie kommen von den Wachen, der Autobahnpolizei, der Leitstelle und den verschiedenen Verkehrskommissariaten. Auch etwa 30 Teilnehmer der Feuerwehrschule Aachen wollen heute dazulernen. Ausbilder und Vorgesetzte von Polizei und Feuerwehr begutachten die Abläufe bis ins kleinste Detail.
Dann ertönen Martinshörner. Streifenwagen treffen noch vor der Feuerwehr und den Rettungswagen ein. Die Polizisten sperren zunächst die Autobahn für den Verkehr und kümmern sich um die zwei Unfallopfer. Einige markieren mit Kreidestrichen die Endpositionen der verunglückten Wagen. Rasch fotografieren sie die Unfallstelle aus verschiedenen Perspektiven. Damit schaffen die Kolleginnen und Kollegen vom Wachdienst die Grundlage für alle weiteren polizeilichen Maßnahmen. Eile ist geboten. Denn wenn die Feuerwehr eintrifft, braucht sie Bewegungsfreiheit.
„Die Rettung von Menschenleben hat immer höchste Priorität“, hebt Fabian Golde hervor. Spurensicherung und Ermittlungen der Polizei müssten dahinter zurückstehen. Der Leiter des Kölner Verkehrskommissariats 2, das schwere Unfälle bearbeitet, spricht von der „Schnittstellenproblematik“ zwischen Polizei und Feuerwehr. Es seien jedoch keine unüberbrückbaren Gegensätze. „Man kann sich immer vernünftig absprechen“, sagt der Erste Polizeihauptkommissar. „Kommunikation ist alles.“ Und wenn Spuren mal zerstört würden, weil die Feuerwehr beispielsweise ineinander verkeilte Wagen voneinander trennen muss, dann sei das eben so.
Bei der Polizei Köln fahren bei schweren Unfällen auch die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der Verkehrskommissariate hinaus, um den Streifendienst zu unterstützen. „Da geben wir schon mal den ein oder anderen Hinweis, damit wir es später bei den Ermittlungen leichter haben“, erklärt Golde.
Inzwischen ist auch die Feuerwehr eingetroffen. Der Praxistest nimmt Fahrt auf. Die Polizei hat Platz gelassen, damit die Rettungswagen dicht an die verunfallten Fahrzeuge heranfahren können. Die beiden Verletzten sind ansprechbar. Ein Notarzt teilt mit, dass Lebensgefahr trotzdem nicht auszuschließen sei. „Das wird oft unterschätzt. Wenn jemand ins Koma fällt, heißt es überrascht: Wir haben doch gerade noch miteinander geredet“, gibt der Mediziner zu bedenken. Erst die Untersuchungen im Krankenhaus gäben letztlich Aufschluss über den Grad der Verletzungen und die Risiken.
Das Team der Feuerwehrleute schiebt unterdessen Holzblöcke unter die Unfallwagen. Das seit ein paar Jahren übliche „Stabblocksystem“ funktioniert ein bisschen so wie Legosteine. Eine einfache und stabile Verbindung verhindert, dass sich die Autos bei der Rettung bewegen.
Für die beruflichen Lebensretter stellt sich jedes Mal die Frage, ob ein schonenderer Weg gewählt werden kann oder ob es wegen des kritischen Zustands eines Opfers sehr schnell gehen muss. Beim Fahrer des Volvo hat sich das Team der Feuerwehr für eine „Sofortrettung“ durch eine Seitentür entschieden. „Wir können eher reanimieren, falls es nötig würde“, teilt Brandmeister Reiner Johnen mit. „Das birgt allerdings die Gefahr, dass durch eine Drehung des Körpers die Wirbelsäule geschädigt wird.“
Beim Fahrer des Opel glauben die Rettungskräfte, etwas mehr Zeit zu haben. Das Dach zu entfernen, ist nicht ganz einfach. Auf diese Weise lässt sich jedoch die eingeklemmte Person behutsam aus dem Wageninneren herausheben. Hydraulische, elektronische und pneumatische Instrumente entfernen Schritt für Schritt die Fahrzeugteile, die noch im Weg sind. Nach gut 20 Minuten ist es vollbracht und die beiden Verletzten befinden sich im Rettungswagen, der das nächste Krankenhaus ansteuert.
Christoph Pütz, Einsatztrainer der Feuerwehr Aachen, „ist sehr zufrieden“. Seine Einsatzkräfte haben darauf geachtet, dass man scharfe Kanten der demolierten Wagen abdeckt und die unter hohem Druck stehenden Schläuche nicht durch Glasscherben zieht. Sie könnten dadurch platzen, sodass einem die Geräte im schlimmsten Fall um die Ohren fliegen. Zum „Glasmanagement“ gehört auch, dass man die Scheiben nach außen drückt und die Scherben gleich wegfegt. Ganz wichtig ist es, die Airbags nicht auszulösen. Gleich zu Anfang hat man deshalb die Batterien in beiden Autos abgeklemmt.
Parallel zur Feuerwehr verrichten die Einsatzkräfte der Polizei ihre Arbeit gründlich und vorschriftsmäßig. Zu den Kräften gehört auch Paula Petzschke. Sie ist gern Mitglied des Qualitätszirkels, weil sie die regelmäßige Fortbildung schätzt. „Ich will wissen, was zu tun ist. Die Übung gibt mir Handlungssicherheit.“ Die brauche sie auch für die Ausbildung von Polizeianwärterinnen und -anwärtern. „Sorgfältige Spurensicherung hilft bei der Analyse des Verkehrsunfalls und später auch bei der Schadensregulierung“, berichtet die 27 Jahre alte Polizeikommissarin.
Für „Personenbeweise“ war diesmal unter anderem die gleichaltrige Jennifer Krystkiewicz zuständig. „Die Personen, die auf dem Seitenstreifen geparkt hatten und neugierig zuschauten, habe ich befragt.“ Darunter hätten sich auch zwei interessante Zeugen befunden. „Sie haben einen schwarzen Audi beobachtet, der den Unfall verursacht haben soll.“ Der Fahrer sei noch da und habe sich als Gaffer unter die anderen gemischt. „Ich habe daraufhin die verdächtige Person angesprochen und eindringlich gebeten, Angaben zum Unfallhergang zu machen. Sie hat das jedoch verweigert. Das ist in solchen Fällen nicht unüblich“, sagt die Polizeikommissarin.
Dann stößt Jens Buchholz von der Autobahnpolizei Bensberg zu den Kolleginnen. Der Polizeihauptkommissar hat den „Bösewicht“ gespielt. „Natürlich habe ich jede Beteiligung bestritten.“ Doch seien Pflanzen vom Seitenstreifen in seinem linken Radkasten gefunden worden. Ein weiteres Indiz, dass er die Karambolage ausgelöst hat. Buchholz hat seine Rolle überzeugend ausgefüllt: „Ich habe mich sehr unsympathisch verhalten und die Polizei beschimpft, als sie meinen Wagen fotografiert und untersucht hat.“ Eine Fiction-Szene, die aus der Realität stammen könnte. Einsatzleiter und Organisator Gerhard Buse zieht am Ende der Übung ein positives Resümee: „Es war schön zu sehen, mit welchem Engagement alle bei der Sache waren.“
In der Nachbereitung lobt Thomas Syperrek, Leiter der Verkehrsinspektion 2, die „tolle Arbeit der Multiplikatoren“. Der Qualitätszirkel Verkehrsunfallaufnahme trage dazu bei, die Standards bei der Verkehrsunfallaufnahme und -bearbeitung dem technischen Fortschritt entsprechend weiterzuentwickeln. Ziel des Qualitätszirkels sei die Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen Verkehrsunfallaufnahme und -bearbeitung bei der Polizei Köln, sagt der Polizeioberrat. Die Multiplikatoren stünden jederzeit als Ansprechpartner in den Dienststellen zur Verfügung und führten mit bereitgestellten Präsentationen des Qualitätszirkels die Weiterbildungsunterrichte auf den Dienststellen durch.
In der Direktion Verkehr bei der Polizei Köln arbeiten die Verkehrsunfallspezialistinnen und -spezialisten von der Verkehrsunfallaufnahme über die Sachbearbeitung, die Unfallanalyse und die Sicherheitsberatung bis hin zur Verkehrsplanung und -überwachung eng zusammen. Das Ziel ist klar: Sie alle wollen erreichen, dass deutlich weniger Menschen im Straßenverkehr verunglücken. Noch ereignen sich in der Stadtregion Köln und Leverkusen jährlich mehr als 52.500 Verkehrsunfälle, wenn man die Autobahnen einbezieht. Mehr als 30 Verkehrsunfälle endeten 2023 für eine oder mehrere Personen tödlich.
„Diese Zahlen machen deutlich, dass wir handeln müssen, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen“, hebt Polizeioberrat Syperrek hervor. Die Verkehrsinspektion 2 koordiniert sämtliche Verkehrskommissariate. Den vor drei Jahren ins Leben gerufenen Qualitätszirkel Verkehrsunfallaufnahme hält er für einen wichtigen Schritt nach vorn. Mit einer guten Verkehrsunfallaufnahme könnte ein Verkehrsunfall bis ins Detail rekonstruiert und Verursacherfragen könnten geklärt werden. Informatives Material helfe auch bei der Entschärfung gefährlicher Straßenabschnitte.
Nach dem Durchlauf der eigentlichen Übung wird noch bis zum Nachmittag thematisch an den vier Themen Unfallfotografie, Monobildverfahren, Spurenkunde und Spurensicherung sowie Vorgangsfertigung und Sachbearbeitung gearbeitet.
Das Monobildverfahren erlaubt eine sehr viel präzisere Wiedergabe der mit Kreide markierten Spuren, als dies mit Handskizzen möglich wäre. Dazu tragen festgelegte Referenzpunkte – Farbkreuze und aufgestellte Tafeln (sogenannte Pointer) – bei, die mit der Kamera fotografiert werden. Mindestens fünf Strecken (die vier Außenseiten und eine Diagonale) werden von den jeweiligen Referenzvierecken mittels Maßband vermessen. Eine Computersoftware entzerrt die Fotos perspektivisch anhand der vor Ort ausgemessenen Referenzvierecke und liefert schließlich eine exakte fotografische Draufsicht. Auch die in den Autos vorhandenen digitalen Spuren unterstützen die Ermittlungen.
Natürlich gebe es bei einer Verkehrsunfallaufnahme auf der Autobahn auch Zeitdruck, macht Gerhard Buse klar, der die Übung auf der A 544 organisiert hat. „Wir wollen, dass eine Vollsperrung so schnell wie möglich aufgehoben werden kann. Doch darunter darf die Sorgfalt nicht leiden.“ Der Erste Polizeihauptkommissar ist Wachleiter der Autobahnpolizei Broichweiden.
Worauf kommt es bei der Unfallaufnahme durch die Polizei an? Bei guter Spurensicherung lässt sich die Bewegungsenergie der Unfallbeteiligten klar ermitteln, auch an welcher Stelle ein Aufprall stattgefunden hat. Es sollten unwiderlegliche Eindrücke aus unterschiedlichen Richtungen mit der Kamera festgehalten werden, am besten mit Fotos und einer Videosequenz. Die objektiven Beweismittel werden immer aussagekräftiger. Spielen persönliche Beobachtungen, Befragungen und Maßnahmen keine Rolle mehr? Doch, die sind weiterhin ganz wichtig. Die Einsatzkräfte können bereits mit einer geschickten Befragung von Zeugen ein gutes Bild der Lage ermitteln. Sie sammeln eine Fülle von Eindrücken und können die Fahrtüchtigkeit der Beteiligten feststellen, soweit es die Umstände zulassen.
Bei Fahrerflucht ist der Verursacher häufig noch verdeckt am Unfallort. Warum? Das ist ein bisschen so wie bei Brandstiftern. Sie mischen sich nicht selten unter die Menge, die neugierig zuschaut. Täter zieht es bekanntlich zum Tatort zurück.
Bei einem schweren Unfall hat die Rettung von Menschenleben Vorrang. Wie verläuft die Zusammenarbeit mit der Feuerwehr? Grundsätzlich sehr gut. Es macht für die Polizei Sinn, jemanden zu bestimmen, der den Kontakt zur Feuerwehr aufrechterhält. Ein Sicherheitsabstand während der Rettungsmaßnahmen muss eingehalten werden. Das dient auch unserem eigenen Schutz.
Wie lange hat die Vorbereitung der Übung gedauert? Einige Wochen. Das hat großen Spaß gemacht, auch wenn die Organisation parallel zu meiner täglichen Arbeit lief. So etwas machst du nicht alle Tage. Die Idee, das Ganze auf der Autobahn durchzuführen, hat sich ausgezahlt. Das war ein großer Rahmen und sehr realistisch. Die Multiplikatoren waren jedenfalls ziemlich begeistert.